Der Zeitstopper
11.10.2015 22:11Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau sich dieses Geschehnis zugetragen hat. Ich wühle in meiner Erinnerungstruhe, welche sich ganz tief versteckt und staubvertrocknet stilleinsam in meinem Gedächtnis in einer Ecke spinnweben-durchzogend befindet. Ich öffne mit der einen Hand die hölzernalte knacksende Truhe, mit der anderen halte ich meine Taschenlampe, die 2 AAA-Batterien enthält, um Licht in die Dunkelheit werfen zu lassen. Eine nasenniesend verursachend graupulvrige Staubwolke kam mir als aller erstes fröhlich entgegen. Ich huste und versuche sie mit der nun freien Hand zu vertreiben. Sie kicherte vergnügt und verschwand dann auch sogleich ins Nichts meiner Gedächtniskammer. Wenig irritiert darüber, mache ich mich sodann auf meine Suche, mein Endziel stets im Kopf behaltend. Ich nimm behutsam eine Erinnerungskiste nach der anderen, die jeweils eine andere Größe und Form haben, aus meiner Truhe heraus. Manche Erinnerungen behausen wunderschön kompliziert verschnörkelnde Holskisten, andere wiederum wurden von mir unlieblich in schlichteren verstaut. Auf Momente bedacht, suche und krame ich nun, bis mir eine Holzschachtel auffällt, die im Gegensatz zu den anderen in liebreizendem Rot wohl eingetaucht worden war. „Ach, das muss sie sicher sein!", denke ich mit frohaufseufzend zufriedenem Lächeln und halte sie stolz in den Lichtkegel meiner Taschenlampe hinein. Ich betrachte sie eingehendst, denn das Muster dieser Kiste ist ein sehr tief interessantes, welches sich sehr wohl lohnt einen näheren Blick darauf zu werfen. Ich halte atemstillstehend die Zeit an, öffne sie mit einem schnellvollem Atemzug und begebe mich auf eine Reise, welche die physikalischen Gesetze unserer Welt durchbrechen sollte...
Ich saß an einem Abend, so wie wir ihn immer kennen, in der U-Bahn. Gedankenweitschweifend und meine Umgebung keine Beachtung schenkend, blickte ich aus dem Fenster und sah nichts als Schwärze. Bei „Praterstern" Station ankommend, beobachtete ich ohne irgendeine Gefühlsregung die Menschenmasse, die ein-, und ausstieg, das rote Blinklicht blinkte lautkreischend auf, die Türen knallten auch sogleich zu und die U-Bahn zischte mit ihrer durchbrechenden Geschwindigkeit zu ihrer nächsten Station. Das Licht blinkte auf, die Türen knallten zu, die U-Bahn zischte weiter. Das Licht blinkte auf, die Türen knallten zu, die U-Bahn zischte weiter. Wir halten. Und noch immer aus dem Fenster blickend, sah ich einen älteren Herrn, allein sitzend auf einer abgenutzten gelbweißlichen U-Bahn Plastikbank. Er fing sofort meine Aufmerksamkeit ein. Denn er hatte etwas an sich, ein schwerer Hauch von Nostalgie und eine zarte Duftwolke, welche mich an Vergangenes erinnerte, umgaben ihn, vollkommen. Meine Neugier herausgekitzelt, betrachtete ich ihn eingehend und bemerkte, dass er eine Uhr an seinem Handgelenk trug. Sie hatte die Farbe Rot! Und auf einmal zerfloßen allmählich und langsam bedacht die Zahlen in der Uhr, wirbelten einen kleinen Taifun auf, rissen die Uhrzeiger ebenfalls mit in den Sog hinein und schlussendlich mit ihnen das gesamte Uhrwerk. Ihre rotflüssigen Wasserbahnen floßen an seiner Hand herab, tropften und zerschellten laut am Boden und hinterließen eine rotblute Wasserlache unter seinen Füßen, unter seinem Sein. Ich blickte in die Lache hinein und sah zu meinem Erstaunen, sein ganzes Leben darin. Ich sah seine Geburt, seine Jugend, seinen ersten Kuss, seinen ersten Drogenrausch, seine Heirat und die Geburt seiner Kinder. Ich sah sein gesamtes Leben, das voller Freude und auch voller Leid und Schmerz war. Ich sah sein Gesicht, wie er sich seine eigenen Träume verwirklicht hatte, aber auch jenes, die seine Reue zeigte, nicht das gemacht und erlebt zu haben, was er sich eigentlich in seinem Leben vorgenommen hatte. Ich zog mich aus der roten Lache heraus, die mir Einblick gewährte, und sah in sein Gesicht, in seine tiefvernarbten Augen, welche vom Leben gekennzeichnet waren. Dieser Mann hatte vieles durchlebt, vieles durchgedacht und vieles durchgefühlt. In diesem Moment empfand ich Mitgefühl, für die dunklen Geschehnisse, die ihm widerfahren sind, und erfreute mich gleichzeitig im selben Augenblick an seinen wunderschön strahlenden Erlebnissen, die er erleben und fühlen durfte. Auf der gegenüberliegenden Seite kam auf einmal, wie aus dem Nichts, eine andere U-Bahn zum Stehen und eine andere Menschenmasse eilte hastig und nichts beachtend an ihm vorbei. Er jedoch, verweilte noch immer stillstitzend wie ein Fels in der Brandung in der Mitte des jetzigen Geschehns, des Moments und des Seins. Das Licht blinkte auf, die Türen knallten zu und meine U-Bahn zischte weiter.