Die Schwebe

30.09.2015 21:29

Ein Zustand

Wenn man sich zwischen Erde und Himmel befindet und seinen Weg vor lauter (Lebens-)wegzweigen nicht klar erkennt

 

    Eine gute Freundin sagte zu mir heute: „Viel Neues geschieht momentan in meinem Leben, aber keins davon hat eine feste Grundlage, dadurch habe ich keinen Halt und keine Struktur. Ich weiß nicht welcher dieser Wege, meiner ist…“. Ich sah sie an und ich spürte ihre grauseufzende Bedrückung, vernahm das Geräusch ihres wild wirbelnden Gedankenkarussells und sah sehr viele kleine, aber auch große leuchtend gelbe Fragezeichen aus ihrem Kopf hochsteigen.

Ohne viele Worte und Erklärungen, wusste ich ganz genau was sie zum Ausdruck bringen wollte und wie sie es meint. Denn, ich kenne diesen Zustand, ich nenne es Schwebe.

    Es war ein kalt grauer Herbsttag und wir gingen Seite an Seite durch die Straßen der Stadt, neben uns der starkschreiende Autoverkehr. Auf einmal fiel mir auf, dass jemand wohl Wasser auf dem Gehsteig ausgeleert hatte. Das Wasser bahnte sich seinen Weg von der einen auf die andere Seite, jedoch aber nicht geradlinig, sondern entzweite sich an vielen Stellen und hinterließ am Boden unregelmäßig verlaufende Linien, die jeweils an einer anderen Stelle mündeten. Ich blieb stehen und deutete auf dieses metaphorische Muster und fragte, bereits wissend um die Antwort: „Meinst du etwa wie dieses hier?“, und zeigte auf die Wasserlinienbahnen unter unseren Füßen. Sie erwiderte mit einem Lachen und bejahte.

    Kennen wir das denn nicht alle? Stand nicht jeder von uns schon einmal an einem Punkt in seinem Leben, in einer bestimmten Zeitphase, in der nichts sicher schien? In der nichts, nach einer stupsend leichten Berührung, stabil erschien? In der wir uns hilfesuchend, manchmal im undurchdringlich grauen Nebel, ein anderes Mal im rußschwarzen Sturm, mal leicht tastend, mal schreiend verzweifelt, nach etwas Festem oder einer menschlich warmen Hand sehnten, die uns hält, die uns fest hält, die uns rauszieht und uns ein Stückchen des Weges mitnimmt und führt?

Ich kenne es.

Kennst du das auch?

              

               Ich erzählte ihr dann von meiner Geschichte, von einer Zeitspanne in meinem Leben, in der ich keinen festen Boden unter meinen Füßen hatte, in der ich nicht wusste, wohin mich all diese Wege, die mir vom Leben aufgezeigt wurden, führen.

[Hinter all diesen Pfaden verborg sich immer der selbe Nebelschleier, geschickt blickdicht vor meinen tränenden, nach Wahrheit suchenden Augen, grinste er mir immer hämisch entgegen, wohlwissend um meine Suche, wohlwissend um mein Verlangen. Meine innere Angst, falsche Wege zu wählen und zu begehen, wuchs stetig an und hob mich in die Schwebe, sich anfühlend wie als würde man sich im Wasser befinden, umschlossen von tiefkalter Dunkelheit, atemhaltend und nach Leben luftschnappend und kämpfend. Ich befand mich einige Monate in den Tiefen der rauen See, an meinem Bein sich befindend ein bleischwerer Anker. Ich führte einen erbitterten Kampf, Tag um Tag, Nacht um Nacht, in der die Zeit stehen geblieben zu scheinen schien, bis allmählich meine Kräfte und meine Willenskraft schwanden und zersplitternd durchbrochen zu meinen Füßen lagen. Nicht mehr stehend, sondern kniend vor meinen Glassplittern, vor meinem eigenen Schlachtfeld, voller Blut und wildverwüstet, durchzogen vom Geruch des Todes und der Verwesung. Ich wollte aufgeben, für immer und für ewig… Ein bestimmter Gedanke, ein ganz bestimmtes Bild drängte sich in meinem Gedankenfluss, der mich immer wieder heimsuchte und an meiner Tür zuerst leise und dann stetig lauter und fordernder klopfte um sich Einlass zu gewähren. Ich ließ ihn schließlich herein… Er breitete sich auch sogleich aus, nahm jede Gedankenzelle begierig ein und beanspruchte diese alleinig für sich. Es war soweit, ich begann ihn zu mögen und sah in ihm einen Ausweg, eine Erlösung von meinen wundoffenen seelischen Narben, von denen ich damals nicht glaubte und schon gar nicht hoffen konnte, dass sie jemals wieder sich schließen würden.

Doch dann kam alles anders.

Eine Stimme durchdrang meinen stillfest unbeweglichen Graunebel, am Anfang nur sehr leise, mit der Zeit aber kam sie immer näher, sodass ich sie (endlich!) und klar hören konnte. Sie durchbrach mein Vakuum, überwindete meine Fallgruben, kletterte über meine Ziegelmauern, durchschaute meine selbst durchdachten gewundenen Pfadwege und dann stand er plötzlich vor mir und reichte mir seine Hand, die Hand, die ich verzweifelt so sehr herbei gesehnt habe.

Wer war er? Und wem gehörte diese Hand?

Er heißt Walter.

Er war es, der mich aus den Tiefen des dunklen Gewässers holte.

Er war es, der mich an der Hand nahm, an meinen Schultern packte und mich mitnahm an die Oberfläche, wo Leben herrschte, Farben regierten, Klänge und Töne ihr zu Hause hatten.

Ich atme, ich atme wieder.

Ich sehe, ich höre, ich spreche, ich schmecke, ich fühle wieder, in allen Regenbogenfarben.

Ich lebe, das Leben hat mich wieder. ]

 

    Ich habe meiner Freundin meine Geschichte nicht so geschildert, wie ich es jetzt euch schildere. Aber, ich sah ihr in die Augen und sagte, dass Walter mich gepackt, mich getragen und mich an manchen Strecken des langlangen Weges sogar am Boden mitgezogen hat, nur damit ich nicht am Weg liegen bleibe, nur damit ich nicht stehen bleibe. Ich versprach ihr, dass ich sie ziehen werde, wenn sie nicht mehr kann, dass ich ihr die Hand reichen möchte, wenn sie sich in ihrem Nebel nicht mehr alleine zurecht findet und ich fügte noch folgende Sätze hinzu:

„Mach weiter! Gehe mutig und erhoben die Wege, denn es gibt keinen falschen oder richtigen. Du musst zuerst Wege einmal beschreiten, um zu fühlen welcher deiner ist. Du wirst daran wachsen, egal welchen du wählen solltest. Du wirst es sehen…“

Wir umarmten uns dann, wohlwissend jede von uns, was die andere meint. Ich blickte ihr noch ein letztes Mal in die Augen, wir verabschiedeten uns und dann ging jede ihren eigenen Weg.

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