Die Wortbrechung. Ein Unfall
14.10.2015 23:07In einer seelisch düsteren Nacht, zog ich hinaus in das lichtüberflutende Abendgetümmel der Stadt. An jenem Tag spielte sich viel ab in der inneren Stadt, denn es gab zeitgleich drei große Veranstaltungen, die die Menschenmassen ins Freie zog. Ich wollte an allen eigentlich und ursprünglich teilnehmen, entschied mich aber letztendlich für keines. Ein gemütlich ruhig seelenbaumelnder Abend mit tiefrotem Rotwein sollte es schlussendlich werden und so stiegen mein Begleiter und ich in den brachialvollen Bus ein, um unser Ziel zu erreichen. So standen wir nun zwischen all den Menschen, die sowieso alle größer waren als ich, luftstillstehend eingezwängt in einer Ecke des Buses, er wortlos aus dem Fenster blickend und ich zu Tode gelangweilt um mich herum schauend, was vielleicht interessant sein könnte. Ich entdeckte nichts. Außer den Bildschirm, der in manchen Busen zur Unterhaltung und als Informationseintrichterung aufgehängt wurde. Ich lese still vor mich hin, was der Bildschirm so von sich gibt: „Gazastreifen, zwei Buben im Alter von 13 und 15 Jahren an der Grenze erschossen; Anschlag auf Friedensdemonstration in Ankara, 86 Menschen getötet worden; Das Wetter: Abstieg der Temperaturen, auf 10 Grad; Werbung; Werbung; Kulturelle Veranstaltung;" „Punkt. Aus.", denk ich mir, „lies nicht weiter, schau weg." Was ich dann auch getan habe, denn mich überkam mein graudüsterer Nebel wieder und Gänsehaut zog sich von meinem Kopfscheitel bis in den letzten Zeh. Der Bus machte eine scharfe Linkskurve, hielt an einer Bushaltestelle und stoppte somit auch meinen in Schwung gekommenen Gedankenfluss. Menschen stiegen ein, Menschen stiegen aus und Kälte von der kühlen Außenluft zog ihre Kreise durch den vollen Bus. Auf einmal sah ich ihn. Er stand mitten in der Menschenmenge, ein gutes Stück von mir entfernt (Gott sei Dank!). Ich schluckte, und beobachtete ihn genauenst. Ich fragte mich, warum er hierher gekommen ist, aber dringlicher erschien mir die Frage seit wann sich Gevatter Tod so hip und neumodern anzieht (?!). Normalerweise trägt er doch einen langweiten schwarzen im Winde flatternden Mantel, sein Gesicht unter der Kapuze versteckend (falls er überhaupt über ein reales verfügen sollte), hält eine übergroße Sense in der Hand (wohl sein markantestes Merkmal) und zu seinen Füßen (auch das ist ungewiss ob er denn über Füße verfüge) umgeben von einem geheimnisvollen Nebelschleier, auf den er dahin gleitet und schwebt. Tja, dieses Mal wohl nicht..., denn er trug statt des Mantels einen weit schwarzen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Fuck The System", schlicht in Rot gehalten, dazu eine weite Hip-Hop Jeans, die sowieso nur die Hälfte des Allerwertesten verdeckte, trug über einer seiner Schultern ein in die Jahre gekommenen schwarzen Rucksack, lieblich verziert mit mehreren Buttons mit Sprüchen wie „Go Vegan!" und „Kapitalismus ist des Menschens Feind!", und trug um das Ganze abzurunden schwarz-weiße abgetragene Sneakers, von der Marke Adidas. Ich war ganz befremdet von seinem neuzeitlichen Erscheinungsbild, aber dachte mir dann nur, dass wohl jeder, auch der Tod, mit der Zeit mitgehen muss. Man will ja nicht als altmodich gelten! Dann zuckte er plötzlich das neueste Iphone aus seiner Hose und begann zu swipen. Ich bemerkte, dass er Kopfhörer aufhatte und fragte mich in dem Moment, ob er gerade von Johann Strauss „Im Abendrot" hörte, oder ob es sich doch um ein Lied von Sido „Mein Block" handelte. Ich überlegte kurz und tippte dann auf das Zweite. Warum ich mich so entschieden hab ? Die Mondscheingasse passierend, fing er an mit dem Kopf im Rhythmus zu wippen. Also ist mein Gedankengang ein vollkommen gerechtfertigter, welcher auf logischem Denken basiert. Aber kommen wir nun zu der anfänglichen Frage, warum er überhaupt in diesen Bus eingestiegen ist und wohin er wohl wollte. Dazu fielen mir zwei mögliche Antworten ein, nämlich, erstens, er ist auf dem Weg zu einem der angesagtesten Clubs in der Stadt, oder er besuchte einen seiner neuen Schützlinge, um ihn/sie in die Schattenwelt überzuführen. Der Bus hielt in der Innenstadt und er bewegte sich in Richtung Ausgang. Gerade in dem Moment, in dem er aussteigen wollte, fielen ihm aus seinem Rucksack mehrere Ottakringer Bierdosen heraus und eine Flasche lustiger Rotwein gesellte sich kugelnd auch zu ihnen, lachend versammelt nun alle am blanken Boden. Gut, somit ist diese Frage wohl auch geklärt. Er sammelte alles hastig ein und verschwand so schnell, wie er gekommen war, in die offenen Arme der süßen Nacht.
Der Bus fuhr weiter und mein Begleiter meinte, dass wir auf einen anderen Bus umsteigen müssten. Gesagt, getan. Wir stiegen in den neu ankommenden Bus und unterhielten uns rotwein-getränkt fröhlich miteinander. In einem Augenblick der zwischenmenschlichen Stille, bemerkten wir beide zeitgleich, einen hängenden Bildschirm, der uns Informationen vor unsere Füße spuckte. Wir lesen beide: „Gazastreifen, zwei Buben im Alter von 13 und 15 Jahren an der Grenze erschossen; Anschlag auf Friedensdemonstration in Ankara, 86 Menschen getötet worden;" Daraufhin unterbrach ich unser beider Gedankenfluss und sagte zu ihm: „Schau lieber weg. Das macht mich nur traurig." Der angekündigte gemütliche Abend traf nun ein und wir schwelgten darin, nicht weltbeachtend, wie in einem Traum.
Und schon brach auch der nächste Abend ein und ich stand gedankenversunken in der U-Bahnstation, wartend auf die nächst kommende. Ich blickte auf und zu meiner Betrübnis stand ich schon wieder vor einem Informationsbildschirm, diesmal aber in der Größe Large. Dieses Mal bäumten sich aber meine Gedanken demonstrativ auf und ich dachte mir, warum man immer und überall ungefragt Informationen zugesteckt bekommt. Absolut genervt von der penetranten Art der neuen Informationsmedien unserer Welt, konnte ich aber dennoch nicht anders, und las: „Gazastreifen, zwei Buben im Alter von 13 und 15 Jahren an der Grenze erschossen; Anschlag auf Friedensdemonstration in Ankara, 86 Menschen getötet worden;" Mein Nebelschleier sagte: „Hallo!" und ein tiefgehend kurzer Stich durchbohrte mein Herz. In dem Moment zog ein Hauch von Kälte über meine Haut, ich blickte mich um und sah ihn wieder. Er stand lässig an einer Säule gelehnt, Kapuzen überzogen, Kopfhörer tragend und mit Handy in der Hand nur ein paar Meter von mir entfernt. Ich beäugelte ihn und im Gegensatz zum letzten Mal trug er diesmal statt einen schwarzen Pullover einen tiefdunkelblauen, diesmal ohne Aufschrift, leer. Fragen und Gedanken drängten sich in mir auf, sie sprudelten beschwingt und setzten an loszustarten, doch messereinschneidend in dem Moment, schoß meine U-Bahn, aus dem dunklen Tunnel des Nichts, herbei. Sie blieb jedoch nicht an ihrem vorhergesehenen Platz stehen, sondern krachte seitwärts mit ohrenbetäubenden Schmerzgeräuschen in den übergroßen Bildschirm, der an der Wand hing, hinein! Menschen schrien auf. Und ich sah in dem ganzen verursachten Chaos und im so entstandenen Rauchnebel, entsetzte Gesichter, die nicht wussten, was gerade eben geschehen war. Du meine Güte, war das ein Tumult! Aber es schien keiner verletzt worden zu sein, Gott sei Dank! Ich hörte und sah noch einen Mann fingerzeigend auf den schuldbelasteten U-Bahn Lenker, folgende Worte: „Wie können Sie denn in den Bildschirm hinein fahren? Wie kann man denn bloß in die ganzen Wörter hinein lenken? Die armen Sätze und Wörter liegen nun alle zerteilt, kaputt und somit unbrauchbar am Boden! Was sind Sie bloß für ein Mensch? ". Viele andere Gesichter, die Schuld trugen, gesellten sich zu ihm, bildeten eine homogene Masse und schüttelten wortlos und still ihren Kopf. Erst jetzt bemerkte ich, dass die ganzen Wörter, zerschellt und gebrochen vom Unfall, trostlos und niederschmetternd am Boden lagen, zerstreut im Umkreis von ungefähr 10 Metern. Man verdaute mit der kommenden Zeit den so entstandenen Schock, auch ich! Und ich ließ meinen Blick hastig durch die Gegend schweifen, auf der Suche nach ihm. Aber ich konnte ihn nirgendwo erblicken. Er war weg. Und so widmete ich mich enttäuscht dem Bild, was sich mir am Boden, darbot. Ein Bild der Zerstörung von Sätzen und Wörtern. Ich erblickte das Wort „Grenze" mitten am U-Bahnsteig, das aber fast in zwei geteilt worden war und nur mehr die Teile „Gren" und „Zen" wurden von einem Hauch von einem Strang zusammen gehalten. Ein in Eile getriebener Mann stieg jedoch in dem selben Augenblick auf das Wort und so zerbrach es schlussendlich doch entzwei. Gleich daneben lag das Wort „Menschen", aber das „en" wurde bei dem Unfall abgetrennt. Ich ließ meinen Blick weiter umher wandern, über all die jammernd und still klagenden Wortbruchstücke und auf einmal entdeckte ich ein paar Meter weiter das Wortteil „Frieden" einsam allein gelassen in einer trostlosen Ecke kauernd, welches vom Wort „Demonstration" abgeschnitten worden war. In dem ganzen Tumult und aus meiner springenden Intuition heraus, hob ich das einsam kleine Wort „Frieden" auf, blickte mich scheu umher, um mich zu vergewissern, ob keiner dies mitbekommen hat, und steckte es schnell in meine Tasche ein. Die nächste U-Bahn kam auch schon, denn "Stillstand bedeutet Rückgang", wie man so schön sagt. Ich stieg ein, die Türen schloßen sich und ich fuhr mit dem Wort „Frieden", fest an mich gedrückt, in die unendliche Dunkelheit des Nichts dahin.