Zeitbesuche

29.11.2015 03:48

 

Ich kannte damals ein kleines Mädchen, welches vom Wesen her zart beseitet war. Ihre braunweichen Augen beherbergten kleine gold-glitzernde Funken, die jedes Mal, wenn sie lachte oder glücklich war, fröhlich-springend auftanzten. Ihr Lachen war so leicht wie der Frühlingswind, der durch die grünen Wälder zog, ihr Herz so rein, wie der erste weiße Winterschnee und ihre Haare so schwarz, wie der nächtliche Sternenhimmel. Ihre Schüchternheit verlieh ihren Wangen einen zartfein-roten Schleier und eine leuchtende Aura umgab schließlich ihr Sein. Ich kann mich erinnern, dass sie stets einen roten Mantel trug. Es war wohl ihr Lieblingskleidungsstück, an dem ihr Herz zu hängen schien.

Ich begleitete sie des öfteren ein Stück ihres Weges, meistens ein paar Schritte hinter ihr gehend. Sie hatte mich nie bemerkt, wie könnte sie auch? Ich war lediglich eine in Unsichtbarkeit umhüllte Beobachterin, der es nicht erlaubt war in die Zeit einzugreifen. Und so ging ich mit ihr gemeinsam an einem Montagmorgen mit stummen Schritten zu ihrer Bushaltestelle, wo sich bereits einige Kinder auf den Schulbus wartend versammelt haben. Schon von weitem hörte ich das rau-grobe Gegröle von mehreren Burschen, die in ihrem Alter zu sein schienen. Ich bemerkte in dem Moment, mit jedem sich der Gruppe nähernden Schritt, ein immer größer werdendes innerliches Unbehagen des kleinen Mädchens. Ihre Augen fixierten die Burschenschar, trübten sich und wendeten sich sogleich ab, als sie von einem der Jungen gesehen wurde. „Hey, Schlitzauge!“, rief dieser aus der Menge heraus. Nun wurde die gesamte Gruppe auf sie aufmerksam und so folgten weitere Sätze aus den Mündern der Halbstarken: „Tsching Tschang Tschung Chinesen sind nicht dumm“ und „Heute schon Reis gegessen?“. Sie lachten alle belustigt auf. Die umstehenden Kinder sagten nichts und selbst dem kleinen Mädchen entfuhr kein einziges Wort. Es zeichnete sich lediglich ein roter Schleier über ihrem Gesicht ab, welches sie beschämt zu Boden senkte. Über ihrem Kopf versammelten sich die Wörter „Schlitzauge“ und „Chinesen dumm“, die in neongelber Farbe schließlich um ihn fröhlich zu rotieren begangen. Der Schulbus traf ein und die Kinder drängten sich um die sich öffnende Tür, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Das kleine Mädchen jedoch, blieb unverändert an ihrem Platz stehen, noch immer mit gesenktem Kopf. Nachdem sich das gröbste Gedrängel gelegt hatte, setzte sie ihren rechten Fuß zu einem Schritt an, stolperte aber über das Wort „Schlitzauge“, das sich ihr gehäßig grinsend in den Weg gestellt hatte. Die Burschen im Bus lachten und gröllten noch lauter als zuvor und weideten sich regelrecht an dem Geschehn. Ich wollte ihr in diesem Augenblick meine Hand anbieten, doch fiel mir ein, dass dies nicht möglich war, denn sie oder sonst wer andere/r konnten mich weder sehen, weder hören und weder fühlen. Ich konnte und durfte nur beobachten, was anderes war mir nicht gestattet.

In der Schule angekommen, ging sie nicht in Richtung Klassenzimmer, sondern steuerte hastig die Mädchentoilette an. Ich folgte ihr. Als ich hinein trat, war sie zu meinem Erstaunen nicht zu sehen, bis ich ein leises Schluchzen aus einer der Klokabinen hörte. Ich ging durch die Tür, in der ich sie vermutet, hindurch und da saß sie nun stillweinend am Boden. Die Wörter kreisten noch immer um sie neckisch umher, springten, tanzten und vibrierten grinsend. Ich wollte sie in den Arm nehmen und trösten, aber das Einzige was mir blieb, war sich neben ihr zu sitzen und zu schweigen. Wir saßen eine gefühlte Viertelstunde nebeneinander, sie noch immer Tränen vergießend und ich zur Stummheit verdammt. Sie blickte plötzlich suchend umher und in diesem Moment trafen sich unsere Blicke. Sie sah mir mit einer festen Entschlossenheit tief in die Augen und ich hielt den Atem an. Kann es sein, dass sie wusste, dass ich hier bin? Aber wie kann sowas sein? Auf einmal packte sie die beiden neon-schreienden Wörter und zeriss sie. Sie zeriss sie, immer und immer wieder, bis nur mehr kleinste Papierfetzen übrig blieben. Mir kam es vor als würde sie sie solange zerreißen wollen bis nichts mehr übrig blieb, bis sie verschwanden. Erschöpft von dem Ganzen, grub sie schlussendlich ihren Kopf in ihre Arme und verstummte. Vielleicht verstummte sie, weil die Wörter nun verstummt waren?

Viele Jahre verstrichen seit diesem Vorfall und ich fragte mich eines Tages, was aus diesem kleinen Mädchen geworden war und wie es ihr ging. Ich machte mich auf die Suche nach ihr. Und so stand ich vor einer Tür in einer Altbauwohnung, mit der Nummer 11, aus der laute basshaltige elektronische Musik drang. Ich hielt noch einmal kurz inne und trat schließlich hinein. Auch wenn ich im Vorhinein gewusst habe, dass sie sich wohl verändert haben musste, war ich dennoch erstaunt, eine junge hübsche Frau vor mir zu haben. Ihr Haar war noch immer schwarz wie der Sternenhimmel, aber ich sah kein Funkeln mehr in ihren Augen, die ich doch immer so gerne gemocht habe! Auch war ihr wangen-roter Schleier verblasst und ihr Herz kalt wie eine glassplitternd-klirrende Winternacht. Sie machte sich anscheinend gerade fertig um auszugehen. Sie schminkte ihre Augen schwarz, färbte ihre vollen Lippen rot, zog ihre High-Heels an, warf sich einen schwarz flatternden Mantel über, zog noch ein letztes Mal an ihrem Joint, trank noch den letzten Schluck Rotwein aus und verließ die Wohnung. Ich folgte ihr, wie damals. Wir gingen durch dunkle Straßengassen, an dem leuchtenden Verkehr und an schallend lachenden Partywütige vorbei und stoppten schlussendlich bei einem Club, der sich im Keller eines Gebäudes befand. Wir gingen die Stiegen hinab und was folgte, war eine wilde Nacht, eingetunkt im Alkoholrausch und Zigarettenrauch. Um genau 4:22 verließ sie den Ort und zog in die noch dunkle Nacht hinaus. An einer Straßenecke kamen wir an einigen angetrunkenen Männern vorbei, die ihr hinter pfiffen. Sie reagierte mit einem Mittelfinger und die Männer wiederum mit dem Wort: „Asiafotze“, welches in die kalte Nachtluft empor stieg und sich neon-gelb aufbäumte. Sie sah das Wort an, zog genüßlich an ihrer Zigarette, bließ den Rauch aus und auf einmal ging das Wort in gelb-orangen hohen Flammen auf und hinterließ einen grau-schwarzen Ascheregen, der sie einhüllte. Die Männer verstummten entsetzt. Ich sah in dem Wirbel der Asche ihre leuchtend roten Lippen sich zu einem Lächeln formen und ihre tief-harten braunen Augen blickten mich mit der selben Entschlossenheit, wie damals in der Toilette, an und durchstachen mein Innerstes. Ich versuchte ihr noch zu folgen, aber sie verschwand in dem Ascheregen. Ich rief nach ihr, aber ich hörte nur mehr das Geräusch ihrer High Heels, sich trippelnd immer weiter weg von mir entfernend. Die Nacht verschluckte sie und ich fand sie nie mehr wieder.

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